Der Pfau und seine hundert Augen

Sechs Tableaux vivants waren es, die Dr. Samuel Coster auf der dreiteiligen Bühne am Amsterdamer Rathaus zur Feier des Friedens konzipiert und inszeniert hatte. Vier davon dienten dazu, die niederländischen Oranier-Fürsten mit antiken Vorbildern zu vergleichen und vor allem als „Friedensfürsten“ hinzustellen.

Zwei der Tableaux aber – ganz links und ganz rechts – benutzen Figuren und Erzählungen aus der antiken Mythologie, um die aktuelle politische Lage zu kommentieren. Der Stich von Pieter Nolpe dokumentiert das Ensemble – schauen wir genauer hin.

Auf der Bühne rechts eine ziemlich klare Botschaft: Illustriert mit dem gefesselten Kriegsgott Mars und dem Schmiedegott Vulkan, der Waffen zu friedlichen Werkzeugen umarbeitet, eine dringliche Warnung an das Kriegsvolk, nunmehr von seinen wüsten Umtrieben abzulassen und nützlicher Arbeit nachzugehen – andernfalls drohe ihnen das Rasphuis, das Amsterdamer Zuchthaus. Ein Bild, das auch für uns heute noch gut zu verstehen ist.

Auf der Bühne links hingegen finden wir eine etwas vertracktere und schwerer zu entschlüsselnde Erzählung. In der Mitte des Bildes eine Kuh, zu ihrer Linken ein kräftiger Bursche, der sie an Horn und Kruppe hält, rechts ein weiterer Geselle, der die Kuh am Schwanz fasst und dabei auf einen Flötenspieler blickt, der vor ihm auf dem Boden sitzt. Im Hintergrund sind vier Wappenträger zu sehen, die die Szene interessiert verfolgen.

Klar hingegen wird nun, mit welchem antiken Mythos dieses Tableau spielt - es ist die Geschichte von Argus und Merkur. Und die geht so:

Der darunter stehende Text gibt erste Auskünfte, ohne jedoch bereits alle Rätsel zu lösen. Also:

  • Die Milchkuh stellt das „Vaterland“ dar – ein damals durchaus übliches Bild für die Niederlande.
  • Der Mann links wird als „Argus mit hundert Augen“ identifiziert, der in Diensten der Provinz Holland steht.
  • Der Flötenspieler ist der „lose Mercur“, „woher auch immer er kommt“.
  • Der schwanzhaltende Bursche rechts hat offenkundig weniger Kontrolle über die Kuh als Argus, der sie „bei den Hörnern fasst“, seine Identität bleibt allerdings noch unklar.

Klar hingegen wird nun, mit welchem antiken Mythos dieses Tableau spielt – es ist die Geschichte von Argus und Merkur. Und die geht so:

Juno ist ihrem notorisch untreuen Gatten Jupiter beim Seitensprung mit der schönen Io auf die Schliche gekommen. Der Göttervater verwandelt seine Geliebte daraufhin zur Tarnung flugs in eine Kuh. Juno nimmt nun aber die Kuh unter Beschlag und lässt sie bewachen vom allessehenden Riesen Argus, dessen hundert Augen nichts entgeht. Jupiter wiederum beauftragt Merkur, die Kuh zu stehlen und in Sicherheit zu bringen. Dem listigen Merkur gelingt es, mit seinem Flötenspiel den Argus mitsamt allen hundert Augen einzuschläfern, er tötet ihn und entführt die Io-Kuh. Juno entdeckt das Desaster, voller Wut rupft sie dem toten Argus alle Augen aus und steckt sie ihrem Wappenvogel, dem Pfau, ins Schwanzgefieder, wo wir sie heute noch bewundern können.

Wie der Pfau zu seinen Augen kam (Juno und Argus, Rubens, ca. 1611)

Das Amsterdamer Tableau vivant spielt nun aber auf höchst geistreiche Art mit dieser Geschichte. Denn im Unterschied zu dem unbekannten Herrn rechts, der seine Augen deutlich von der Kuh abwendet, lässt sich der wachsame Argus von den lieblichen Flötentönen des Merkur eben nicht einschläfern oder auch nur ablenken. Der Mythos wird also zunächst einmal umgedreht: Merkur scheitert, denn Argus bleibt wach und hält die Kuh fest im Griff.

Doch das ist noch nicht alles, die Geschichte erhält eine zusätzliche Umdrehung. Denn des Argus hundert Augen werden hier sehr wohl auf eine andere Gestalt „übertragen“ – und zwar tatsächlich auf einen Pfau, ganz wie im Mythos! Der Pfau heißt im Niederländischen „Pauw“. Und der Gesandte der Provinz Holland bei den soeben erfolgreich abgeschlossenen Friedensverhandlungen heißt – Adriaan Pauw.

Schon damals und bis heute gilt Adriaan Pauw als Mastermind der gesamtniederländischen Delegation aus allen sieben Provinzen und als der entscheidende Architekt des Friedens mit Spanien. Und so hat die holländische Kapitale Amsterdam allen Grund, hier „ihren“ Gesandten triumphierend zu feiern – als sorgsamen Wächter des Vaterlands.

Das Gewicht der vier Beobachter im Hintergrund unterstreicht die große historische Bedeutung dieses sorgsamen Wirkens des Adriaan Pauw. Ausweislich ihrer Wappen sind hier dargestellt, von links: Frankreich mit dem Lilienwappen, der deutsche Kaiser mit dem Doppeladler und der spanische König mit seinem Coat of Arms. Nur über den vierten Beobachter können wir nichts sagen, sein Wappen ist verschattet und kaum zu identifizieren – von den verbleibenden europäischen Großmächten kämen wohl am ehesten Schweden oder England in Frage.

Wer ist aber nun das Gegenstück zum wachsamen Pauw, dieser Herr rechts, der sich so deutlich von den Flötentönen des Merkur ablenken lässt und zudem glaubt, eine Kuh am Schwanz unter Kontrolle halten zu können? Auf seinem Wams ist eine Wappenrose zu erkennen, heraldisch bei uns vor allem als lippische oder geldrische Rose bekannt.

Doch hier muss ja jemand gemeint sein, der mit den Friedensverhandlungen zu tun hatte und dessen Agieren sich von demjenigen Hollands offenkundig unterschied. Sieht man sich die Friedensverhandler in Münster und Osnabrück etwas näher an, dann finden wir eine solche Rose eigentlich nur im Wappen des Grafen Trauttmannsdorf, des kaiserlichen Chefunterhändlers.

Wappenrose derer von Trauttmansdorff (ungewöhnlich, weil sechsblättrig)

Ob aber die Amsterdamer Grund hatten, den Verhandlungsführer der Kaiserlichen auf solche Art zu verspotten? Das bedarf weiterer Nachforschungen.

Die Tatsache hingegen, dass die Familie Pauw mit dem Vogel gleichen Namens zusammengebracht wurde, ist gut belegt. Schon Adriaans Vater Reynier Pauw, lange Jahre hochgestellter Beamter und Bürgermeister Amsterdams, wurde in Bildern als Pfau dargestellt. Bei internen Machtkämpfen, die in der Hinrichtung des „Landsadvokaats“ Johan van Oldenbarnevelt im Jahre 1619 gipfelten, spielte Reynier Pauw eine prominente Rolle – er war Vorsitzender des Gerichts, das das Todesurteil verhängte. Das zog nicht nur ein wütendes Protestgedicht Joost van den Vondels nach sich, sondern auch Spottbilder und -verse, in denen Oldenbarnevelts Gegner als Tiere karikiert wurden. Und Adriaans Vater? Natürlich als Pfau.

Oldenbarnevelt als Opfer einer tierischen Verschwörung, zentral mit dabei: Reynier Pauw als Pfau (Cornelis Saftleven)

Doch auch in den Darstellungen des Gesandten selbst spielt der Vogel eine Rolle. So etwa im bekannten Terborch-Gemälde, das den Einzug Adriaan Pauws in die Verhandlungsstadt Münster zeigt:

Der Einzug des Gesandten Adriaan Pauw (Gerard Terborch, ca. 1646)

Was einer oberflächlichen Betrachtung schnell entgeht, sind die beiden Vögel, die hoch am Himmel über Adriaan und seiner Frau Anna ihre Kreise ziehen.

Unten die Pauws, oben die Pfauen (Ausschnitt aus Terborchs Gemälde)

Sie haben wirklich auffallend lange Schweife. Aber ob tatsächlich hundert Augen darauf sind, können wir nicht nachzählen – zu weit weg…